Lange Zeit fanden soziale Faktoren bei medizinischen Sachverhalten keinen Platz, da angenommen wurde, dass die Entwicklung eines Menschen entweder durch biologische oder soziale Einflüsse bestimmt wird (nature versus nurture). Heut zu Tage hat man erkannt, dass sich auch soziale Rahmenbedingungen in entscheidendem Umfang auf die biologische Konstitution und gesundheitliche Befindlichkeit auswirken und umgekehrt. Unter sozialen Faktoren sind vorrangig das soziale Umfeld, in dem man aufwächst und geprägt wird, sowie dort übliche Verhaltensweisen gemeint (Sozialisation). Welche Formen und Auswirkungen dieser Einfluss annimmt, unterscheidet sich von Person zu Person und auch in den verschiedenen Altersgruppen. Ist in der Kindheit vor allem die Eltern und Geschister ausschlaggebend, werden in der Jugend Freunde, sogenannte Peer-Groups wichtiger. Neben dem Erziehungsstil der Eltern übernehmen auch Lehrer eine wichtige Funktion für das Lernen und die Herausbildung von Handlungsweisen. Im Zuge dessen erfolgt auch die Weitergabe gesellschaftlicher Normen und Werte, die unser Denken in unterschiedlichem Ausmaß bestimmen. Entsprechende Vorbilder und Prägungen sind beispielsweise bei der Entwicklung von Sucht- oder Aggressionsverhalten entscheidend. Auch traumatisierende Erfahrungen, wie Misshandlungen oder sexueller Missbrauch entstehen in einem sozialen Rahmen und können schwerwiegende psychologische Störungen nach sich ziehen. Zu beachten ist allerdings, dass Kinder sich nicht zwangsläufig in die gleiche Richtung entwickeln müssen. Vorgelebtes Verhalten kann auch als Negativbeispiel dienen. Desweiteren spielt das arbeitsbezogene Umfeld hier eine wichtige Rolle. Denn auch übermäßiger Leistungsdruck und andauernder Stress ziehen früher oder später körperliche und psychische Folgen nach sich. Aber nicht nur bei der Entstehung psychischer Erkrankungen, sondern auch bei den Auswirkungen dieser sind soziale Faktoren von großer Bedeutung. So werden viele Patient_innen aufgrund ihrer Störung gesellschaftlich gebrandmarkt, benachteiligt oder gar ausgeschlossen. Einschränkungen im Alltag und abwehrende Reaktionen des sozialen Umfeldes führen vielfach dazu, dass sich Betroffene für ihre Defizite schämen und sich zurückziehen. Dadurch wird nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Wahrscheinlichkeit einer Besserung gemindert.
So wie das Eisen außer Gebrauch rostet und das stillstehende Wasser verdirbt oder bei Kälte gefriert, so verkommt der Geist ohne Übung. Leonardo da Vinci